Offener Brief an Sigmar Gabriel
Lieber Sigmar,
es gibt viele gute Beschreibungen für die Rolle, die wir Jusos innerhalb der SPD wahrnehmen. „Stachel im Fleisch der SPD“ trifft oftmals zu. Lange habe ich mich als hessischer Juso-Landesvorsitzender gleichwohl mit öffentlicher Kritik an dem von Dir vorgegebenen Kurs unserer Partei zurückgehalten. Statt mich an Aktionen wie #nichtmeinVorsitzender zu beteiligen, habe ich oftmals sogar Deine Aussagen verteidigt und unsere Kritik in die dafür vorgesehenen Gremien getragen.
Lieber Sigmar, ich habe zur Kenntnis genommen, dass Du und die Bundes-SPD in letzter Zeit häufiger das Wort „Haltung“ benutzt und das sorgt dafür, dass ich mich nun doch öffentlich äußere. Auch ich glaube, dass es auf unsere „Haltung“ ankommt, um das Dauertief – stabil unter 30 Prozent – zu verlassen. Allerdings frage ich mich, was genau Du mit „Haltung“ meinst?
Welche „Haltung“ steckt dahinter, wenn wir der Presse entnehmen dürfen, dass Du jetzt mit dem ehemaligen Genossen Wolfgang Clement gemeinsam Termine abhältst und sein Buch bewirbst? Herr Clement ist nicht mehr Teil unserer sozialdemokratischen Familie; und das ist auch gut so! Ich bin so frei und erinnere Dich, aus hessischer Sicht, mal an die berühmte Landtagswahl in Hessen 2008. Hier hat der damalige Genosse Clement dazu aufgerufen, unsere Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti und die hessische SPD nicht zu wählen. Ein ehemaliger SPD-„Superminister“ ruft öffentlich kurz vor der Wahl dazu auf, die eigene Partei nicht zu wählen. Die Wahl ging denkbar knapp aus. Nach einem immensen Verlust für die Roland Koch-CDU und einem sehr starken Zuwachs für uns, lagen wir mit nur 0,1 Prozent hinter der CDU. Das anschließende Parteiordnungsverfahren gegen Herrn Clement war mehr als folgerichtig. Dass Wolfang Clement die ausgesprochene Rüge nicht akzeptierte und stattdessen die SPD verlassen hat, sagt viel über seine narzisstische Persönlichkeit und sein Politikverständnis aus. Um das deutlich zu sagen: Der Mann, dem Du nun zu Aufmerksamkeit verhilfst, war der Meinung, dass Roland Koch („Wo kann man gegen Ausländer unterschreiben?“) besser geeignet sei, Hessen zu regieren als Andrea Ypsilanti. Ganz nebenbei hat Andrea mit 36,6 Prozent (ein Plus von 7,6 Prozent) ein Wahlergebnis eingefahren, von dem wir auf Bundesebene seit einigen Bundestagswahlen nur träumen können.
Ich konnte auch keine „Haltung“ im Umgang unserer Partei mit der PEGIDA-Bewegung sehen. Yasmin, unsere Generalsekretärin, distanziert sich und kurz darauf besuchst du PEGIDA-Anhänger. Hast Du als Bundeswirtschaftsminister und SPD-Bundesvorsitzender wirklich nichts Besseres zu tun als Bücher von Wolfgang Clement zu bewerben und Dich mit PEGIDA zu treffen?
Auch beim Ringen um die Vorratsdatenspeicherung sehe ich keine „Haltung“. Kurz vor der Abstimmung wird lanciert, dass diese Abstimmung eine Abstimmung über die Zukunft des Bundesvorsitzenden sei und unsere Generalsekretärin erhebt sogar Regierungsfähigkeit über das Grundgesetz. Aktuell diskutiert der Bundesvorstand über ein neues Grundsatzpapier von Dir, in dem eine neue „law and order“-Seite der Sozialdemokratie anklingt. Lieber Sigmar, diese Art von Politikspielchen ist das Gegenteil von „Haltung“. Ich kann nachvollziehen, dass der Gedanke an die bevorstehende Bundestagswahl dem einen oder der anderen im Bundesvorstand einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt. Jedoch ist purer Aktionismus, gerade in Krisenzeiten, ein schlechter Ratgeber.
Die Menschen spüren, ob jemand eine echte „Haltung“ hat. Das Problem ist nur, dass die Sozialdemokratie, zumindest wenn man nach der Bundes-SPD geht, so viele unterschiedliche „Haltungen“, gern auch zum selben Sachverhalt, hat, dass man nicht mehr weiß, wofür wir überhaupt stehen. Bei uns in Nordhessen gibt es dazu einen einfachen Spruch: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“
Jede Partei hat bekanntlich den oder die Vorsitzende, den sie verdient. Wie Du die SPD in die Große Koalition geführt hast, unter der Teilhabe der gesamten Partei, war beispiellos und hat gezeigt, wie gut es funktioniert, wenn die gesamte Partei eingebunden wird. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie über 150 Jahre alt werden konnte, weil bei uns das Wir mehr zählt als das Ich. In diesem Sinne lade ich Dich herzlich gern zu unserer diesjährigen Juso-Landeskonferenz am 5. und 6. September nach Hessen ein. Eine Diskussion mit Dir über die Rolle von „Haltung“ in der Politik wäre sicherlich für alle Beteiligten mehr als spannend.
Mit solidarischen Grüßen
Pascal